von einem europäischen Bildverständnis ab, dessen Gegenständlichkeit einen abbildenden Charakter hat. Den mimetischen Charakter dieser Bildkonzeption kritisierte Plato sowohl in der Dichtung als auch in der bildenden Kunst. Der Grundgedanke des Platonschen Kunstbegriffs beruht auf einer ontologischen Differenz zwischen den reinen Ideen als den mentalen Urbildern und der konkreten, materiell fassbaren Sinnenwelt als den Abbildern. Platons Forderung, den Mythos durch den Logos und seine Rationalität zu ersetzen, ist eine Absage an Homer und an seine oral vermittelte epische Bildwelt. Mit der Überdeckung der mündlich erzählten Überlieferung durch die Ausbildung und Ausbreitung der antiken Schriftkulturen beginnt ein alphabetisches Zeitalter im McLuhan’schen Sinne, d. h. nicht erst mit der Erfindung der Gutenberg’schen Drucktechnik. Die bildhafte mündliche Erzählung war ein wesentliches kommunikatives Medium der Nomaden am nächtlichen Lagerfeuer gewesen, und die Bildkultur ihrer Teppiche war ornamental-abstrakt. Die Literarisierung, d.h. schriftliche Fassung der Kultur ist Angelegenheit der sesshaft gewordenen Gesellschaften,
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so wie auch Platons Modellvorstellung einer staatlichen Organisationsform die Sesshaftigkeit der Staatsbürger als Voraussetzung hat. III. Für die Bildwirkerei hat sich in der Kunstgeschichte der Begriff „Tapisserie“ durchgesetzt. Es handelt sich hierbei jedoch nicht (nur) um Wand- oder Bildteppiche, wie umgangssprachlich fälschlicherweise immer wieder angenommen wird, sondern um Behänge, die bisweilen sogar ein mehrteiliges Ensemble bilden, mit dem man thematisch und farblich einen gesamten Raum ausstattet, einschließlich der Türvorhänge und der Bezüge der Sitzmöbel. Im Unterschied zur ornamental angelegten orientalischen Ikonografie waren die Textilbilder des europäischen Mittelalters von Anfang an figurativ konzipiert: Oft gaben sie Jagdszenen, Fabeltiere oder Liebesallegorien wieder, oder sie illustrierten Idealvorstellungen von einem höfisch-ritterlichen Leben. Warum man sich in einem Renaissance-Palast nicht einfach ein Tafelbild an die Wand hing, sondern lieber solche Tapisserien, ist einsichtig: Da sie die heutigen Tapeten ersetzten, benötigte man Bilder für eine großflächige Dekoration, für die aber eine entsprechend dimensionierte bemalte Holztafel